Es war einer dieser Tage, an denen man eigentlich gar nichts Besonderes vorhat. Die Sonne blinzelte durch die Gardinen, der Himmel war blau, und meine Enkelin Emma stand plötzlich vor mir – in Gummistiefeln, mit einem großen Rucksack auf dem Rücken und funkelnden Augen: „Opa, lass uns in den Wald gehen!“
Na gut, dachte ich. Warum nicht. Frische Luft, Bewegung – und mal wieder Zeit nur für uns zwei. Dass dieser kleine Ausflug uns beide auf eine ganz eigene Reise schicken würde, hätte ich da noch nicht geahnt. Doch genau das ist das Wunderbare an diesen spontanen Momenten: Sie halten Überraschungen bereit, wenn man sie lässt.
Die erste Entdeckung: Spuren im Matsch
Kaum waren wir auf dem Waldweg angekommen, stürmte Emma voraus und rief: „Schau mal, Opa! Fußspuren!“
Und tatsächlich – mitten im weichen Matsch zeichneten sich Hufabdrücke ab. Wildschwein vielleicht? Oder ein Reh? Ich holte mein altes Bestimmungsbuch aus der Tasche (ja, das habe ich immer dabei!) und gemeinsam verglichen wir die Formen. Emma tippte auf Reh, ich war mir nicht sicher – aber schon war der Forschergeist geweckt.
Wir überlegten, woher das Tier wohl gekommen war. Ob es uns vielleicht noch beobachtete? Emma schlich auf Zehenspitzen weiter, ganz leise, als könne sie das Reh aufspüren. Ich musste schmunzeln – und schlich natürlich mit. Immer wieder blieben wir stehen, suchten nach weiteren Spuren, versuchten Muster zu erkennen. Emma wollte wissen, wie alt die Spuren sind, wie tief sie waren, wie schnell das Tier wohl unterwegs gewesen sein könnte. Ich erklärte ihr, dass man das tatsächlich grob abschätzen kann – und plötzlich wurde unser Spaziergang zu einer kleinen Biologiestunde mitten im Grünen.
Ein Bach, der zur Herausforderung wurde
Der Waldweg führte uns tiefer ins Grüne, bis wir an einen kleinen Bach kamen. „Da drüben ist ein schöner Ast! Den will ich haben!“ rief Emma – und schon stand sie am Ufer. Der Ast war nicht weit entfernt, aber der Bach war breiter, als er auf den ersten Blick wirkte.
„Opa, wir bauen eine Brücke!“ – klar, was sonst. Also suchten wir gemeinsam dicke Äste, Steine und Moos. Es war herrlich matschig, meine Knie knackten beim Bücken, Emmas Hände waren bald erdig bis zum Ellenbogen – aber das war egal. Der Ehrgeiz war geweckt. Wir bauten, testeten, lachten – und ja, wir landeten beide einmal mit einem Schuh im Wasser. Aber das war es wert.
Nach zehn Minuten stand unsere improvisierte Mini-Brücke – und tatsächlich: sie hielt. Emma stolz wie Bolle, ich ein bisschen skeptisch. Aber der Stolz war berechtigt. Das war Teamarbeit vom Feinsten. Und nebenbei lernte sie, wie man Stabilität erkennt, was Gleichgewicht bedeutet und dass man manchmal auch Kompromisse eingehen muss – zum Beispiel, wenn der „perfekte“ Stein einfach zu schwer zum Tragen ist.
Plötzlich auf Schatzsuche
Wenige Meter weiter leuchtete etwas Rotes zwischen den Blättern. „Ein Schatz!“ rief Emma – und rannte los. Es war nur eine alte, leere Bonbondose, aber ihre Fantasie hatte längst den Turbo gezündet.
„Vielleicht haben Piraten sie hier versteckt! Vielleicht ist in der Dose ein Hinweis!“
Tatsächlich lag ein zusammengefalteter Zettel darin – vermutlich ein Einkaufszettel, aber das störte nicht. Emma entdeckte darauf vermeintliche Koordinaten, die sie als Schatzkarte interpretierte. Und so wurde aus unserem Waldspaziergang eine Schatzsuche.
Wir folgten der Richtung, die sie vorgab – mal nach links, mal nach rechts, mal über einen gefallenen Baumstamm, mal durchs Unterholz. Es ging dabei nicht um das Ziel, sondern ums Erleben. Und das war echtes Abenteuer. Wir gaben jedem Ort neue Namen: die Wurzelhöhle, die Mooslichtung, das Zapfenfeld. Wir versteckten sogar unsere eigene Botschaft in einer leeren Nussschale für den nächsten Abenteurer, der vielleicht vorbeikommt.
Eine Begegnung der besonderen Art
Mitten im Wald hörten wir plötzlich ein leises Rascheln. Beide blieben wir stehen. „Was war das?“ flüsterte Emma. Und dann sahen wir es: Ein Eichhörnchen, das über den Boden huschte und einen Zapfen trug.
Wir hielten den Atem an, um es nicht zu erschrecken. Es war so nah, dass wir jedes Härchen erkennen konnten. Für ein paar Sekunden waren wir einfach nur still – und voll Staunen. Dann flitzte es davon, blitzschnell den Baum hoch.
„Opa, das war das schönste Tier heute!“ – und ich konnte nur nicken. Wir sprachen darüber, wie Tiere den Winter überleben, was sie fressen, wie sie Nester bauen. Emma war neugierig und stellte Fragen, die ich zum Teil selbst nachschlagen musste. Ein schönes Gefühl, gemeinsam zu lernen.
Bastelideen am Wegesrand
Beim Rückweg sammelten wir alles ein, was man für einen Bastelnachmittag brauchen könnte: Tannenzapfen, Rindenstücke, bunte Blätter, Moos und kleine Stöcke.
Emma hatte schon tausend Ideen: „Wir machen daraus einen Waldgeist! Und ein Blätterbild! Und ein Waldhotel für Käfer!“
Am Ende schleppte ich einen halben Rucksack voller Naturmaterialien nach Hause – und das mit einem breiten Grinsen. Zuhause angekommen, sortierten wir alles auf dem Küchentisch und überlegten, was wir daraus basteln könnten. Emma begann, eine kleine Waldfee aus einem Zapfen zu bauen, während ich ein Insektenhotel aus Rinde und Stöckchen zusammensteckte. Selbst unser Hund schnupperte interessiert mit.
Ein Picknick, das zum Lagerfeuer wurde
Zurück am Waldrand machten wir Rast. Ich hatte heimlich ein kleines Picknick eingepackt – Apfelschnitze, Käsebrote, eine Thermoskanne mit warmem Kakao. Emma war begeistert.
Wir saßen auf einem umgefallenen Baumstamm, unsere Füße baumelten, und wir ließen uns den Wind um die Nase wehen. Plötzlich meinte sie: „Opa, das ist wie beim Lagerfeuer. Nur ohne Feuer. Aber mit Geschichten.“
Also erzählte ich ihr eine Geschichte von früher. Von dem einen Mal, als ich mich im Wald verlaufen hatte – und wie ich damals gelernt habe, auf Vogelstimmen und Sonnenstand zu achten. Emma hörte gebannt zu. Und ich merkte: Sie nimmt das alles in sich auf. Danach wollte sie alles wissen: Wie man Moos an Bäumen erkennt, ob man Wasser aus einem Bach trinken darf, und ob ich schon mal einen Fuchs gesehen habe. Ich antwortete ehrlich – und genoss jede dieser Fragen.
Fazit: Abenteuer liegen oft direkt vor der Haustür
Unser Spaziergang war kein Ausflug ins Hochgebirge. Kein Urlaub, kein durchgeplanter Action-Tag. Aber er war voller kleiner Wunder, voller Überraschungen, voller gemeinsamer Momente.
Ich habe gesehen, wie Kinderaugen den Alltag in ein Abenteuer verwandeln können. Und ich durfte dabei sein. Das ist mehr wert als jeder Freizeitpark. Für Emma war es ein Tag voller Fantasie und Freiheit – für mich ein Tag voller Erinnerungen.
Vielleicht ist es genau das, was zählt: Die kleinen Schritte. Das Staunen. Das Zusammensein. Und der Mut, einfach mal loszugehen – mit offenen Augen und einem offenen Herzen. Und einem Kind an der Seite, das uns zeigt, wie bunt und lebendig die Welt sein kann, wenn man ihr mit Neugier begegnet.