Ich gebe es offen zu: Ich war nie ein geduldiger Mensch. Ich wollte, dass die Dinge sofort passieren. Dass Menschen schnell reagieren. Dass Pläne reibungslos aufgehen. Dass das Leben mitspielt. Und wenn nicht? Dann wurde ich schnell nervös, unruhig oder sogar wütend. Geduld erschien mir lästig. Zeitverschwendung. Schwäche gar. Heute bin ich über 70. Und ich kann sagen: Ich lag falsch.
Geduld ist kein Stillstand. Sie ist eine Kunst. Und wie bei vielen Künsten: Man versteht sie erst mit der Zeit. Und manchmal lernt man sie erst, wenn man glaubt, es sei zu spät. Dabei ist es nie zu spät für Geduld – im Gegenteil: Sie entfaltet ihren wahren Wert erst mit den Jahren.
Früher: Immer auf dem Sprung
In meinen Dreißigern war ich ein Getriebener. Beruflich wollte ich weiterkommen, zu Hause sollte alles funktionieren. Ich war Vater, Ehemann, Freund, Kollege – und überall wollte ich „performen“. Geduld war da hinderlich. Ich dachte: Wer wartet, verliert. Wer nachgibt, wird überholt.
Das zeigte sich in kleinen Dingen. Wenn die Kinder trödelten. Wenn meine Frau einen Moment zu lang überlegte. Wenn der Bus sich verspätete. Ich hatte für alles einen Plan – und Geduld passte da selten rein. Ich wollte Leistung, Ergebnisse, Kontrolle. Ich war stolz auf meine Effizienz, aber oft blind für das Leben dazwischen.
Ich war überzeugt: Wenn ich schnell genug bin, klappt alles. Aber ich irrte mich. Denn das Leben hat seinen eigenen Rhythmus – und den kann man nicht hetzen.
Erste Aha-Momente
Irgendwann, so mit Mitte fünfzig, kamen die ersten Zeichen. Mein Körper wurde langsamer. Und mit ihm mein Denken. Ich bemerkte, dass ich mich nach Ruhe sehnte. Nach Momenten, die nicht getaktet waren. Ich konnte es noch nicht Geduld nennen. Aber ich ahnte: Da ist etwas, das mir fehlt.
Ein Schlüsselmoment war ein Nachmittag im Garten. Ich saß einfach nur da, ohne Ziel. Ein Schmetterling landete auf meiner Hand. Ich blieb still. Und zum ersten Mal seit Jahren war ich vollkommen gegenwärtig. Keine Eile. Kein Druck. Nur dieser Augenblick.
Die eigentliche Veränderung kam jedoch erst in den letzten Jahren. Mit dem Ruhestand. Mit dem Wissen, dass viele große Dinge meines Lebens abgeschlossen sind. Und mit dem Verständnis, dass ich nicht mehr jedem Ziel hinterherjagen muss.
Geduld beginnt im Alltag
Heute merke ich: Geduld ist kein großer Entschluss. Sie beginnt in kleinen Momenten. Wenn ich an der Supermarktkasse stehe. Wenn mein Enkel zum zwanzigsten Mal dieselbe Frage stellt. Wenn ein Termin ausfällt. Oder das Internet mal wieder streikt.
Früher wäre ich innerlich explodiert. Heute atme ich durch. Und denke: „So ist das Leben.“ Diese fünf Worte haben mein Leben verändert. Denn sie nehmen Druck raus. Sie lassen Raum.
Diese Haltung kam nicht über Nacht. Ich musste sie mir erarbeiten. Geduld ist wie ein Muskel – wenn man ihn nicht trainiert, bleibt er schwach. Ich begann mit einfachen Übungen: bewusstes Atmen, langsam Gehen, stilles Sitzen. Und mit jedem Tag wuchs meine innere Ruhe.
Was Geduld wirklich bedeutet
Geduld ist nicht nur Warten. Es ist aktives Aushalten. Es ist das Vertrauen, dass Dinge sich entwickeln dürfen. Dass Menschen ihren eigenen Takt haben. Dass das Leben nicht immer sofort liefert – aber oft das Richtige, wenn man es lässt.
Ich habe gelernt:
- Geduld ist das Gegenteil von Gleichgültigkeit.
- Geduld bedeutet nicht, alles hinzunehmen, sondern anzunehmen.
- Geduld heißt, nicht aufzugeben – sondern zuzulassen.
Geduld ist nicht Passivität, sondern bewusste Präsenz. Sie erlaubt, dass ein Gespräch Pausen hat. Dass ein Vorhaben reifen darf. Dass man sich selbst nicht dauernd antreiben muss.
Mein größter Lehrmeister: mein Enkel
Kein Mensch hat mir mehr über Geduld beigebracht als mein jüngster Enkel. Er ist neugierig, verspielt und hat einen unendlichen Redefluss. Früher hätte ich ihn gebremst, unterbrochen, korrigiert. Heute lache ich, höre zu, stelle Rückfragen. Nicht, weil ich müsste. Sondern weil ich will.
Ich sehe, wie er durch seine Welt geht: ohne Eile, mit offener Neugier. Und ich denke: So war ich auch mal. Irgendwann ging das verloren. Jetzt finde ich es wieder. Durch ihn.
Wenn wir zusammen Steine sammeln, Schnecken beobachten oder mit Lego spielen, vergesse ich die Zeit. Und das ist das größte Geschenk. Ich bin wieder Kind – im besten Sinne. Offen, wach, geduldig.
Geduld mit anderen – und mit mir selbst
Früher war ich streng mit anderen. Und noch strenger mit mir. Ich hatte einen inneren Kritiker, der selten schwieg. Wenn etwas nicht sofort klappte, war ich genervt. Heute kann ich lächeln, wenn mir etwas misslingt. Ich sage mir: „Macht nix. Du probierst es eben noch mal.“
Auch in der Partnerschaft hat sich das bemerkbar gemacht. Ich unterbreche weniger. Ich höre besser zu. Ich lasse Raum. Und ich merke: Das tut auch mir gut.
Ich erlaube mir inzwischen auch, einfach mal nichts zu tun. Nicht aus Bequemlichkeit – sondern aus Selbstfürsorge. Geduld mit mir selbst heißt auch: nicht perfekt sein müssen. Fehler zulassen. Schwächen annehmen. Und mich trotzdem mögen.
Geduld heißt: Vertrauen lernen
Vielleicht ist das der Kern: Geduld und Vertrauen gehören zusammen. Wer Geduld hat, glaubt daran, dass etwas reifen darf. Dass nicht alles im Griff sein muss. Dass manche Antworten Zeit brauchen. Und manche Wege Umwege sind – und trotzdem richtig.
Ich war ein Planer. Ein Antreiber. Jetzt bin ich ein Begleiter. Einer, der sagt: „Wir schauen mal, was passiert.“
Ich habe gelernt, dass das Leben sich nicht planen lässt wie ein Projekt. Es entwickelt sich. Es überrascht. Es fordert. Und manchmal beschenkt es uns genau dann, wenn wir loslassen.
Was Geduld mir geschenkt hat
- Mehr Gelassenheit: Ich rege mich weniger auf, auch bei Kleinigkeiten.
- Tiefere Beziehungen: Ich höre mehr zu, urteile weniger, bin präsenter.
- Mehr Lebensfreude: Ich genieße den Moment – ohne auf das nächste zu schielen.
- Mehr Gesundheit: Weniger Stress, besserer Schlaf, weniger Verspannungen.
- Mehr Dankbarkeit: Für das, was ist. Nicht nur für das, was sein könnte.
- Mehr Zeitgefühl: Ich hetze nicht mehr – ich gestalte bewusst.
Geduld hat mir geholfen, mein Leben zu entschleunigen. Und dadurch intensiver zu erleben. Ich sehe mehr, fühle mehr, bin mehr da. Und das hat nichts mit Alter zu tun – sondern mit Haltung.
Mein Rat an dich
Wenn du das Gefühl hast, du müsstest immer funktionieren, alles kontrollieren, alles sofort lösen – atme einmal tief durch. Und erinnere dich: Du darfst warten. Du darfst loslassen. Du darfst vertrauen.
Geduld bedeutet nicht, alles hinzunehmen. Sie bedeutet, das Leben zuzulassen, wie es ist. Und darin das Schöne zu entdecken.
Nimm dir heute fünf Minuten. Setz dich ans Fenster. Schau hinaus. Und warte auf nichts. Das ist der Anfang.
Fazit: Geduld ist ein Geschenk, das sich mit den Jahren entfaltet
Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so empfinde. Aber heute weiß ich: Geduld ist keine Schwäche. Sie ist eine große innere Kraft. Und sie kommt nicht von allein. Sie braucht Zeit. Erfahrung. Und oft ein paar graue Haare.
Aber wenn sie da ist, verändert sie alles. Den Blick auf andere. Den Umgang mit sich selbst. Und das Verhältnis zum Leben.
Vielleicht ist das das Schönste am Älterwerden: Dass man lernt, nicht nur mehr zu wissen – sondern tiefer zu verstehen. Und das beginnt mit Geduld.